Die Berliner Freunde der Völker Rußlands e.V. und die Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V. veranstalteten am 22. Juni 2011 mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V. und dem Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in Berlin
ein Kolloquium zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion.
Historiker aus Rußland, Belarus, USA und aus Deutschland haben auf der mit mehr als 130 Teilnehmern gut besuchten wissenschaftlichen Veranstaltung Referate gehalten.
Wir werden in loser Folge einen ausführlichen Tagungsbericht, die an die Veranstaltung gerichteten Grußworte und die Referate der Historiker auf unserer Website veröffentlichen. Außerdem werden wir jene Texte ins Netz stellen, die als Referate bei der Leitung des Kolloquiums eingereicht wurden, aber aus Zeitmangel nicht mehr vorgetragen werden konnten.


Sergej Kudrjaschow (Deutsches Historisches Institut Moskau):
Der Vorabend und der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges - Wirklichkeit, Wahrnehmung und Wertung in Russland


Der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und der danach fast vier Jahre dauernde Krieg wurden zum größten bewaffneten Konflikt in der Menschheitsgeschichte. Nie zuvor überfiel eine Dreimillionen-Armee ihren Gegner. Die Gesamtfront der Gefechtshandlungen betrug im Sommer 1941 über 1000 Kilometer. Faktisch kämpften 46 Monate an der Ostfront von beiden Seiten ständig acht bis neun Millionen Menschen gegeneinander. In den Jahren des Krieges wurden etwa 32 Millionen Menschen eingezogen, von denen ca. 40 Prozent fielen.
Beispiellos war nicht nur die Größe des Konfliktes, sondern auch die außerordentliche Grausamkeit der Kampfhandlungen. Am 30. März 1941 sagte Hitler zu seinen Generalen, dass der bevorstehende Krieg kein gewöhnlicher Krieg sein werde. "Das wird ein Kampf von zwei Weltanschauungen gegeneinander sein. Wir müssen uns verabschieden von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums... Ein Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf." Die Realisierung des faschistischen Rassenhasses führte zu massenhaften Verlusten nicht nur unter den Soldaten, sondern auch unter der zivilen Bevölkerung. Die Gesamtverluste der UdSSR sind bis heute Gegenstand heftigen Streits, aber bei den verschiedenen Einschätzungen der Verluste unter der Zivilbevölkerung differieren die Zahlen zwischen 14 und 18 Millionen Menschenleben, die Gesamtverluste zwischen 26 bis 32 Millionen. Bezogen auf die Kriegsdauer fielen jeden Tag etwa Zwanzigtausend. Hinzu kommen -zig Millionen Verwundete und Invaliden, der Verlust von Verwandten. Insgesamt ist festzustellen, dass der Krieg direkt oder indirekt jede sowjetische Familie traf. Die Höhe des wirtschaftlichen Verlustes während der Kriegsjahre betrug das 20-fache des Nationaleinkommens im Jahre 1940, d. h. die UdSSR verlor etwa 30 Prozent ihres nationalen Reichtums. Es ist zu verstehen, dass diese Verluste sich nicht nur für immer im Gedächtnis der Nation eingegraben haben, sondern auch in hohem Maße die historischen Interpretationen beeinflussten und bis heute beeinflussen.

Die Teilnahme und der Sieg im Zweiten Weltkrieg wurden für die Sowjetunion zum wichtigsten Ereignis in ihrer Geschichte. Unter dem Einfluss und während des Ersten Weltkrieges fand in Russland die Revolution statt und es entstand ein neuer Staat. Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges trat dieser Staat nicht nur endgültig aus der Isolation heraus, er entwickelte sich zu einer Weltmacht und wurde sogar Gegenstand der Verehrung und Sympathie von Millionen Menschen. Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass in Russland im Vergleich zu anderen Ländern, die im Zweiten Weltkrieg gesiegt haben, der Begehung verschiedener mit dem Krieg in Verbindung stehender Daten eine so große politische, erzieherische und kulturelle Bedeutung beigemessen wird. Wechselten auch die führenden Repräsentanten der Länder und ist die Sowjetunion von der Weltkarte verschwunden, so werden aber der 9. Mai und der 22. Juni nach wie vor von vielen Menschen als besondere, festliche und traurige Tage empfunden. Sogar Politiker verschiedener Parteizugehörigkeit stimmen darin überein, dass diese Daten für die gesamte Nation integrierende Bedeutung haben. Dennoch gelingt es im heutigen Russland noch nicht, eine bilanzierende Annäherung der Auffassungen sowie einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen. Dafür gibt es viele Gründe. Sie sind ambivalent und widersprüchlich. Die Auffassungen hängen mehr oder weniger mit der staatlichen Politik, der Propaganda, der ideologischen Konfrontation in der Zeit des Kalten Krieges und auch mit seinem Erbe sowie mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 zusammen.

Eine Zeitlang wurde in der UdSSR der Sieg im Krieg als kultisches, heiliges Ereignis angesehen. Zu Recht war man stolz auf den Sieg und aus ihm wurde Kraft für neue große Ziele geschöpft. Die wichtigste offizielle These lautete: "Der Sieg bewies für alle Zeiten die Vorzüge des Sozialismus und des Kurses der Kommunistischen Partei." Diese These wurde vom Kindesalter an im Bewusstsein jedes Bürgers verankert. Der starke ideologische Druck und die Abhängigkeit aller Forschungsinstitute vom Staat ließen aus der Vielzahl der Aspekte des Krieges nur einem einzigen Aspekt Raum: dem Thema des Heldentums. Die Beamten fürchteten panisch die Entdeckung von Dokumenten, die eine Kompromittierung der Sowjetmacht enthalten könnten. Unter diesem Vorwand verzichteten sie sogar auf die vollständige Veröffentlichung der Materialien des Nürnberger Prozesses in russischer Sprache. Dem wissenschaftlichen Gesichtsfeld wurden ganze Problemkreise entzogen. Infolgedessen erfuhren die Bürger von der Tragödie der sowjetischen Kriegsgefangenen, von den faschistischen Massenerschießungen in Babij Jar, von der Zusammenarbeit des sowjetischen Generals Wlassow mit den Nazis sowie von vielen anderen Ereignissen nicht durch Publikationen von Historikern, sondern durch Literatur und Film.

Man könnte meinen, das Verschwinden der UdSSR und das Ende des Kalten Krieges hätten die ideologische Zuspitzung der Fragen korrigiert und der politischen Korrektheit mehr Raum geben müssen. Allerdings kam etwas völlig anderes heraus. Die führenden Repräsentanten der ehemaligen RGW-Länder, beziehungsweise des Warschauer Vertrages, strebten danach, sich möglichst schnell von der "verderblichen prosowjetischen Vergangenheit" zu distanzieren, indem sie neue nationale Symbole bekräftigten. Alles "Schlechte" begannen sie mit einer gewaltsamen Einwirkung Russlands bzw. der UdSSR in Verbindung zu bringen. Das wurde ausgelegt als eine Abweichung, bzw. grobe Behinderung des natürlichen Strebens dieser Länder nach Teilhabe an der europäischen Kultur und Demokratie.

In erstaunlicher Weise veränderte sich die Situation in den Ostseeländern und in der Ukraine. Die neuen Führer dieser Länder erhoben in ihrer Suche nach heldenhafter nationaler Identität und in ihrem hemmungslosen Kampf gegen die sowjetische Vergangenheit fast alle Gegner Russlands in himmlischer peinlicher Verklärung zu wahren Denkmälern. Daraus ergab sich, dass innerhalb kürzester Zeit ehemalige Legionäre, Polizisten, Soldaten der Wehrmacht und der SS in Litauen, Lettland und Estland zu epischen Helden gemacht wurden. Ihnen wurde die größte staatliche und gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Trotz milder Proteste der EU werden ihnen zu Ehren demonstrativ Denkmäler errichtet, Paraden veranstaltet, Filme gedreht, Theaterstücke aufgeführt. All jene Bürger, die in der Roten Armee gegen die Faschisten gekämpft hatten, wurden der gesellschaftlichen Verunglimpfung ausgesetzt und gezwungen, für die neurotischen Komplexe der neuen Eliten in den baltischen Ländern, Maßregelungen auf sich zu nehmen.
Vorsätzlich wurde von den ehemaligen Machthabern der Ukraine die Geschichte des Krieges in nationalistischer Manier umgedeutet. Das wird begleitet von der Errichtung verschiedener Monumente zu Ehren der ukrainischen Nationalisten. Dieser Prozess verlangsamt sich allerdings wesentlich unter der gegenwärtigen Führung der Ukraine.

Auch in der russischen Gesellschaft wird ein heftiger politischer Streit zu Fragen des Krieges geführt. Auf der Welle der stürmischen Ereignisse im Jahre 1991 haben neue Kremlführer ihre Macht errichtet und begannen das sowjetische System allseitig zu demontieren. Die entschiedene Hinwendung zum Kapitalismus verlangte nach einer neuen Ideologie. Diese Ideologie konnte in der ersten Etappe nur schwer die Werte der sowjetischen Vergangenheit tolerieren, insbesondere in Anbetracht der umfassenden Verwendung der Geschichte des Krieges durch die Anhänger der linken Opposition in ihrem Kampf gegen Boris N. Jelzin. Die Regierung reagierte darauf mit einer Reduzierung der Feierlichkeiten sowie mit Angeboten einer "neuen Geschichte". Kaum ein Ereignis der sowjetischen Geschichte entging der Aufmerksamkeit der Revisoren. Zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts ergoss sich auf die Bürger unseres Landes eine Flut von "entlarvenden" Publikationen, Rundfunk- und Fernsehsendungen. Zum Teil trug dieser Prozess einen objektiven Charakter als Reaktion auf den übergroßen Druck der ideologischen Ausrichtung durch die Partei. Die Beseitigung der Zensur, die Öffnung eines Teils der Archive sowie verstärkte Kontakte mit dem Westen konnten auf die Umdeutung der sowjetischen Geschichte nicht ohne Wirkung bleiben. Die Bestellung einer "anderen Geschichte" erforderte aber auch die Suche nach einem "anderen Krieg". Infolgedessen wurden in Russland im Rahmen des gesamten Kampfes gegen das kommunistische Erbe in großer Menge Stereotype der westlichen rechtsradikalen Literatur aus der Zeit des Kalten Krieges aufpoliert. Aus diesem Blickwinkel wurde die Geschichte des Krieges in einer recht simplen Darstellung verbreitet. Angeblich hatte Stalin immer von einer Zusammenarbeit mit Hitler geträumt. Mit der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes hätte der Generalsekretär den Krieg provoziert. Zwei verbrecherische Systeme wären zusammengestoßen, als Deutschland die Sowjetunion überfiel. Die Rotarmisten hätten nicht kämpfen wollen und hätten sich deshalb in großen Massen ergeben. Es sei also so, dass nur die nazistische Politik des Völkermordes das Volk dazu gezwungen habe, sich für Stalin zu entscheiden. Die Rote Armee sei durch die Kommissare und die Sperreinheiten im Hinterland zum Kämpfen gezwungen worden. Im Hinterland hätte ein höllisches Regime geherrscht, durch das die Menschen zur Arbeit gezwungen wurden usw. Der westliche Leser kennt diese Klischees seit langer Zeit. In Russland wurden diese primitiven Darstellungen als angebliches Ergebnis neuer "wissenschaftlicher" Analysen dargereicht.

Im Mittelpunkt der Diskussionen über den Krieg in Russland tauchte zu Beginn der 90er Jahre eine Hauptthese der Nazipropaganda auf. Bereits in den 60er Jahren wurden in der akademischen Literatur (darunter auch in der Bundesrepublik) ausführlich die großen Bemühungen der Hitlerfaschistischen Führung im Jahre 1941 dargelegt, die Öffentlichkeit in der Welt davon zu überzeugen, dass ihr Ostfeldzug als Präventiv- und Verteidigungskrieg geführt werde. In den 80er Jahren versuchten die Rechtsradikalen in Österreich, der BRD und den USA diese Version wiederzubeleben. Sensationell aufgebauscht hat diese Sicht dann aber der fahnenflüchtige sowjetische Kundschafter V. Resun, der unter dem Pseudonym Suworow schrieb. Direkt oder indirekt wurden die Thesen Suworows dann für den Kampf gegen das ideelle Erbe der Kommunistischen Partei verwendet, die aber ebenfalls die Erfahrungen des Krieges für ihre eigene Propaganda nutzte. Ein wirklicher Meinungsaustausch begann erst nach der Veröffentlichung einer Information über den Plan eines Präventivschlages, der von dem sowjetischen Generalstab Mitte Mai 1941 ausgearbeitet wurde.

Aus den für die Veröffentlichung freigegebenen Dokumenten des Archivs von Stalin und des Politbüros in den Jahren 2000 bis 2009 wurde uns Historikern das Verhalten der sowjetischen Führung verständlicher, obwohl weitere Fragen offenblieben. Zu welchen Wertungen kamen die Wissenschaftler? Eine mehr oder weniger vorurteilungsfreie Betrachtung der Ereignisse berechtigt zu der Feststellung, dass in Wirklichkeit die Absichten Stalins (bzw. der Sowjetunion) in Anbetracht der deutlichen Kriegsabsichten lange Zeit im Dunkeln blieben. Alle von der Sowjetunion bis zum 22. Juni 1941 unternommenen Aktionen wurden ausschließlich als Verteidigungsmaßnahmen interpretiert. Die meisten Historiker meinen, gestützt auf die veröffentlichten Materialien und auf viele indirekte Hinweise, dass Stalin im Sommer 1941 weder einen Präventivschlag und erst recht keinen Überfall auf Deutschland plante. Allerdings lassen widersprüchliche Weisungen und Aktionen des Kremls unmittelbar vor dem Krieg unterschiedliche Interpretationen zu. Zum Beispiel besteht eine Ursache fehlender Eindeutigkeit (vorhandener Unklarheiten) in der strategischen Konzeption der aktiven Verteidigung, die von den sowjetischen Streitkräften verwendet wurde. Infolgedessen können aus der Standortverteilung der Truppen an sich keine überzeugenden Schlüsse über defensive oder offensive Pläne gezogen werden. Theoretisch lässt sich vermuten, dass es überhaupt keine detaillierten Diskussionen bzw. Kalkulationen gegeben hat. Für eine überzeugende Analyse darüber ist jedoch eine vollständige Öffnung aller Archive dieser Zeit erforderlich. So paradox es ist, müssen wir feststellen, dass in der gegenwärtigen Situation die Geheimhaltung der Verwaltungsarchive Russlands (Ministerium für ausländische Angelegenheit, Ministerium für Verteidigung und andere) das historische Ehrgefühl der Nation schmerzhaft verletzt, weil dadurch der Kultivierung verschiedenartiger Erfindungen sowie einer primitiven Vulgarisierung des Problems in einer quasiwissenschaftlichen Literatur Vorschub geleistet wird.

Es ist heute bewiesen, dass Nachrichten über den bevorstehenden deutschen Überfall Moskau erreichten und immer häufiger nach der Bestätigung des "Barbarossa-Planes" vom 18. Dezember 1940 eintrafen. Bekannt ist ebenfalls, dass Stalin diese Mitteilungen über die deutschen Absichten als Desinformation betrachtete. Irgendwie kann man ihn ja auch verstehen, da die Informationen einander nicht selten widersprachen. In ihnen waren zuweilen einander gegenseitig ausschließende Mitteilungen über die Absichten Deutschlands sowie über die Termine des beabsichtigten Überfalls enthalten. Einige Angaben stammten aus britischen Quellen, wodurch sie besonders zweifelhaft wurden. England war außerordentlich daran interessiert, die Sowjetunion in einen Krieg mit Deutschland hineinzuziehen.

Die scheinbare Sicherheit, mit der Stalin die unaufhörlich eingehenden und irritierenden Berichte über die wahrscheinlichen Pläne Deutschlands bewertete, baute auf seiner Überzeugung auf, dass bei aller Entschlossenheit Hitlers, die Sowjetunion in nächster überschaubarer Zeit zu überfallen, er dies aber noch nicht im Sommer 1941 tun wird, weil er nicht einen Zweifrontenkrieg führen wolle. Diese Meinung behielt der Generalsekretär auch nach der Reise Molotows nach Berlin im November 1940. Als Stalin davon sprach, dass Hitler nicht ohne Not einen Zweifrontenkrieg führen würde, bedeutete dies: Hitler beginnt den Krieg nicht, wenn ihn nicht eine bedrohliche Haltung der UdSSR dazu zwingt.
Aus diesem Grunde waren seine Rede sowie weitere Äußerungen in der Form von Toasts am 5. Mai 1941 außerordentlich bezeichnend formuliert. Allein der Empfang für die Absolventen der Militärakademien wurde mit großer Geheimhaltung inszeniert, als ob beabsichtigt wäre, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen und die Wichtigkeit dieser Maßnahme zu unterstreichen. Die Erklärungen Stalins waren nicht für eine weitergehende Veröffentlichung in der Presse bestimmt. Gleichzeitig konnten sie kein großes Geheimnis bleiben, weil an dieser Veranstaltung Absolventen von 16 Militärakademien und 9 Militärfakultäten teilnahmen und einen Kreis von mehreren Hundert Zuhörern bildeten. Es entsteht der Eindruck, dass die Zuhörer direkt dazu aufgefordert wurden, nicht darüber zu schweigen, sondern das Wesentliche dieser Reden in den Truppenteilen zu verbreiten.
Bei Betrachtung der in mündlicher und schriftlicher Form erhaltenen Informationen verglich Stalin in seiner 40-minütigen Rede die Vorzüge und Nachteile der Armeen beider Länder, wobei er betonte, dass die Rote Armee in keiner Weise mehr hinter der Wehrmacht zurücksteht. Er deutete unmissverständlich an, dass das faschistische Deutschland gegen die Sowjetunion aggressive Absichten hegt und dass der Krieg unvermeidlich heranrückt. Es könne allerdings mit etwas Glück der Beginn des Krieges noch etwas hinausgezögert werden, aber die Rote Armee sei stärker geworden. Sie sei in der Lage, von der Verteidigung zur Offensive überzugehen und sie müsse in diesem Sinne erzogen werden. Die Rede war erstaunlich offen. Die Umgebung Stalins verstand den Sinn der Rede darin, den Militärangehörigen Zutrauen in die eigenen Kräfte zu vermitteln.
Über die Ziele dieses "Spektakels" kann man nur Vermutungen anstellen. Die Erörterungen Stalins waren wahrscheinlich auch an die deutsche Regierung gerichtet, die ein zusätzliches Signal erhalten sollte. Botschafter Schulenburg interpretierte dieses Ereignis gleich als Bestreben, die Beziehungen zu Deutschland zu verbessern. Der Botschafter übermittelte nach Berlin seine Überzeugung, dass Stalin danach strebe, "die Sowjetunion vor einem Konflikt mit Deutschland zu bewahren".

Man kann tatsächlich mit hoher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass Stalin unmittelbar vor dem Krieg einen solchen "Kompromiss" anstrebte. Es war nicht so, dass Stalin die Berichte über die Vorbereitungen auf einen Überfall einfach ignorierte; er legte diese Meldungen auf seine eigene Art aus. Er sah darin Ablenkungsmanöver vor einer Operation gegen Großbritannien sowie ein Mittel der Druckausübung gegen die Sowjetunion. Diese Überzeugung wurde auch durch Meldungen bestärkt, wonach Deutschland der Sowjetunion irgendein Ultimatum unterbreiten wird mit ökonomischen, territorialen oder politischen Forderungen. Der sowjetische Boschafter Dekanosow berichtete in seinem ausführlichen Brief vom 4 Juni an Molotow über eine Vielzahl von Gerüchten in der deutschsprachigen Presse und unter den diplomatischen Vertretern in Berlin über einen angeblich in Vorbereitung befindlichen neuen Vertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion, über einen gemeinsamen Gegenschlag gegen England, über eine "Verpachtung der Ukraine". Insgesamt war die Aussage aller Mitteilungen, dass Deutschland die Sowjetunion zu politischen und ökonomischen Zugeständnissen zwingen werde, die eine Hilfe für den Sieg über England, das Vereinigte Königreich sein werden.

Derartige Desinformationen wurden speziell von den Deutschen verbreitet. Sie gelangten über Umwege, in der Regel über dritte Länder, nach Moskau. Diese Nachrichten waren vermeintliche Bestätigungen für Meldungen unmittelbar aus Berlin. Die genannten Forderungen sahen wahrheitsgetreu aus. Genannt wurden Erhöhungen der Lieferungen von Getreide und Rohstoffen, Beitritt zu dem Drei-Mächte-Pakt, technische Hilfe für den Krieg mit England. All dies sollte Stalin in seiner Überzeugung bestärken, dass Hitler nur an dem Sieg über England interessiert sei.
Jedenfalls erwartete man in Moskau bis zu dem Kriegsausbruch derartige Forderungen. Von Bedeutung ist, dass diese Überzeugungen nicht nur auf Gerüchten und Vermutungen fußten, sondern auch vom Verhalten des deutschen Botschafters genährt wurden. Er handelte aus eigener Initiative, um einen sowjetisch-deutschen Konflikt zu verhindern. Die Information Schulenburgs hatte für Stalin, wie neu zugängliche Dokumente zeigen, eine prinzipielle Bedeutung.

Am 5. Mai 1941; also am gleichen Tag, an dem Stalin auf dem Abendempfang seine Rede hielt, hatte Schulenburg zusammen mit dem Botschaftsrat Hilger ein Treffen mit dem UdSSR- Botschafter in Deutschland Dekanosow. Schulenburg sagte Dekanosow, der sich zu dieser Zeit in Moskau aufhielt, dass es ihm bei seinem letzten Treffen am 28. April mit Hitler nicht gelungen sei, ihn von den freundschaftlichen Absichten der Sowjetunion zu überzeugen.
Infolgedessen hätte Hitler, so waren die Worte des Botschafters, den Eindruck gewonnen, dass Moskau danach strebe, die Verwirklichung der existenziellen Interessen Deutschlands zu behindern und dem Streben Deutschlands nach einem Sieg über England entgegenzuwirken. Aus diesem Grund wäre Deutschland, so Hitler wörtlich, gezwungen, Sicherungsmaßnahmen an seiner Ostgrenze zu ergreifen. Schulenburg sagte, dass in Berlin und überhaupt in Deutschland in der letzten Zeit zunehmend Gerüchte über einen Krieg der Sowjetunion gegen Deutschland Verbreitung fänden. Schulenburg sagte über sich, dass er immer nach freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern gestrebt habe. Er sähe deshalb seine Aufgabe darin, diesen Gerüchten entgegenzuwirken. In den Aufzeichnungen Dekanosows wird erwähnt, dass sich Hilger dieser Feststellung anschloss, obwohl er während des gesamten Gesprächs Schulenburg korrigierte und ergänzte, wiewohl er "offensichtlich die Weisungen Berlins besser verstanden habe". Hilger führte aus, man müsse etwas unternehmen, um diese Gerüchte zu zerstreuen. Schulenburg wiederholte ebenfalls den Gedanken, dass etwas unternommen werden müsse, um die Gerüchte zu zerstreuen, denn diese müssten "als Faktum Berücksichtigung finden". In Anbetracht der Unaufschiebbarkeit des Problems bestand Schulenburg auf einem weiteren Treffen.
Dieses Treffen fand am 9. Mai im sowjetischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten statt, aber bereits ohne Hilger. Erneut ging es in dem Gespräch über die in der letzten Zeit aufgetauchten sowjetisch-deutschen Widersprüche sowie um die Kriegsgerüchte. Dekanosow schlug als mögliche Handlung die Abfassung eines gemeinsamen Kommuniques vor, in dem derartige Gerüchte als unbegründet zurückgewiesen würden. Schulenburg, der keinerlei Vollmachten für hierfür besaß, hielt es für wichtig, dass die Initiative von Stalin ausginge. Er machte deshalb einen Gegenvorschlag. Stalin könne sich doch in Verbindung mit seiner Ernennung zum Vorsitzenden der sowjetischen Regierung mit Briefen an die Vorsitzenden der Regierungen mehrerer mit der UdSSR befreundeter Länder wenden und in seinem Brief an Hitler ein gemeinsames deutsch-sowjetisches Kommunique vorschlagen. In Anbetracht der gebotenen großen Eile könne dem Brief bereits ein Entwurf mit dem ungefähren Inhalt des Kommuniques beigelegt werden. Bei seinem Weggang bat Schulenburg darum, seinen Vorschlag Molotow zu Kenntnis zu bringen und das Gespräch am nächsten oder übernächsten Tag weiterzuführen. Dekanosow versprach Schulenburg, ihn zur Abstimmung der Zeit des nächsten Treffens anzurufen. Dieses fand am 12. Mai 1941 erneut in Anwesenheit von Hilger statt.

Stalin und Molotow nahmen nach dem Gespräch Dekanosows an, dass ein Austausch von Briefen zur Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen Erfolgsaussichten haben könnte. Heute ist klar, dass in Anbetracht des irrtümlichen Eindrucks von Dekanosow, wonach Schulenburg und Hilger auf Weisung Berlins handelten, die sowjetische Führung nicht erahnen konnte, dass der deutsche Botschafter ein eigenes Spiel gewagt haben könnte, schon gar nicht gegen die Absichten Hitlers. Später gestand Schulenburg allerdings Dekanosow, dass er mit ihm privat gesprochen habe. Er könne deshalb "diese Verhandlungen in Moskau mit Molotow nicht weiterführen, weil er dazu von seiner Regierung nicht bevollmächtigt sei und sogar Zweifel habe, ob er eine solche Vollmacht bekäme. Stalin und Molotow sollten deshalb die Initiative ergreifen, damit er die Möglichkeit erhielte, Berlin über die von sowjetischer Seite eingegangenen Vorschläge zu informieren.
Stalin und Molotow reagierten nicht auf diese Demarche (diplomatischer Akt der Wahrung - evtl. bedrohter - Interessen - d. Übers.). Die Initiative von Schulenburg und Hilger (er erhob im Weiteren Anspruch darauf, Initiator dieser Aktion gewesen zu sein) wurde als eine "Warnung" gegenüber der Sowjetregierung aufgefasst, Deutschland plane einen Angriff. Heute lässt sich recht leicht erklären, weshalb Stalin und Molotow nicht reagierten: An dem Tag, an dem Dekanosow im Auftrag von Stalin und Molotow Schulenburg anbot, die Idee eines Austauschs von Briefen mit einem gemeinsamen Kommunique zu beraten, erschienen in England erste Meldungen über die Landung von Hess in Schottland. Am darauffolgenden Tag erhielt Stalin praktisch gleichzeitig das Protokoll des Gespräches von Dekanosow mit Schulenburg zusammen mit der Nachricht über die Landung von Hess in England. Dieser geheimnisvolle Flug vom 10. Mai 1941 rief in Moskau größte Befürchtungen hervor. Über diese Aktion wurden in der ganzen Welt Vermutungen angestellt und auch Moskau machte keine Ausnahme. Erneut tauchte das Gespenst einer Annäherung zwischen Deutschland und England auf, die von Stalin sehr befürchtet wurde. Kennzeichnend ist die einzige Rotstiftunterstreichung von ihm eines einzigen Satzes, in dem Schulenburg ohne jeglichen Hintergedanken die Vermutung formulierte, dass in kurzer Zeit Deutschland und England wahrscheinlich zu einer Übereinkunft gelangen werden.

Plötzlich schien es, dass diese Zeit schneller gekommen sei, als erwartet wurde. Nach seiner Rückkehr nach Berlin sandte Dekanosow am 21. Mai Molotow einen Bericht mit dem Titel "Vorläufige Angaben zu dem Vorfall mit Hess", der natürlich sofort an Stalin weitergegeben wurde. In diesem Bericht wurden die damals vorhandenen offiziellen Mitteilungen, Gerüchte und in den diplomatischen Kreisen bestehenden Vermutungen zusammengefasst. Dekanosow dramatisierte in seinem Bericht nichts, aber auch der ruhige Ton seiner Darlegungen hatte bei den Moskauer Adressaten noch bedrohlichere Eindrücke hervorgerufen, weil er alle von der geheimnisvollen Aktion ausgelösten Befürchtungen bestätigte. Der Botschafter sah in dem "Vorfall mit Hess" einen Fingerzeig auf Widersprüche in den deutschen Regierungskreisen im Hinblick auf den weiteren Kurs der Außenpolitik sowie Anzeichen eines starken Strebens nach Frieden mit England. Er erwähnte in diesem Zusammenhang ebenfalls die Zunahme der antisowjetischen Propaganda und Stimmungen in Deutschland. Gerade diese Sätze des Dekanosow-Berichts hatte Stalin unterstrichen.

Ebenso besorgniserregende Berichte trafen aus London ein. Wir wissen heute, dass die britische Regierung keine Geheimverhandlungen mit Hess geführt hatte, aber sie machte absichtlich keine Mitteilungen über die Vorgänge. Dieses Theater wurde vor allem wegen Moskau inszeniert, das erschreckt auf ein faktisches Bündnis mit Berlin verzichten sollte. Da London nicht genau wusste, ob Hitler die Sowjetunion überfallen oder sie lediglich erschrecken und zu Zugeständnissen zwingen wollte, war das von Großbritannien begonnene Spiel außerordentlich riskant.

Die Bereitschaft der sowjetischen Seite zu Zugeständnissen lässt sich nicht nachprüfen. Aber die widersprüchlichen Ereignisse im Mai 1941 vertieften nur den Argwohn Stalins, dass diese ganze Geschichte ein Versuch Hitlers sein könnte, mit England Frieden zu schließen und vielleicht sogar mit ihm den Kampf gegen den "Bolschewismus" zu führen. Stalin hatte tatsächlich die Orientierung verloren und wusste nicht, wie er handeln sollte. Die Teilmobilisierung im Mai und im Juni konnte die Rote Armee nicht stärken. Die Truppen waren nicht mobil gemacht, die militärische und taktische Ausbildung der Neueingezogenen ließ zu wünschen übrig. Außerdem erhielten die Neueingezogenen noch keine Waffen. Die Handlungsstrategie war niemandem klar.

Einige Autoren erklären das Verhalten Stalins mit einem angeblichen persönlichen Schriftverkehr zwischen den beiden Staatsmännern. Einige derartige (mit Verlaub zu sagen) "Briefe" wurden im Internet und auch in der pseudowissenschaftlichen Literatur veröffentlicht. Dennoch existieren keine archivarischen oder sonstige indirekte Hinweise, die diese Version bestätigen würden. Es gibt aber viele Gründe für die Annahme, dass die TASS-Erklärung vom 13. Juni eine im Grunde genommen verspätete Reaktion auf die Initiative von Schulenburg und Hilger vom 5. Mai ist. Die Mitteilung wurde von Stalin unter Verwendung von Ideen und Vorschlägen Schulenburgs verfasst. Diese Erklärung widersprach den Gerüchten über Spannungen in den sowjetisch-deutschen Beziehungen sowie angeblich von Deutschland erhobenen Forderungen beziehungsweise Kriegsabsichten. Am Abend des 13 Juni wurde die TASS-Erklärung im Rundfunk verlesen und am nächsten Tag in den Zeitungen veröffentlicht.

Stalin und Molotow erwarteten definitiv eine Antwort. Dem diente auch die vorherige Übergabe des Textes der TASS-Erklärung an Schulenburg. Die Antwort erfolgte am frühen Morgen des 22. Juni, nachdem der Überfall bereits erfolgt war und der erschütterte Schulenburg Molotow sein tiefgehendes Bedauern über eine solche Entwicklung der Ereignisse erklärte. Allerdings war Stalin immer noch der Ansicht, dass er Hitler besser als diejenigen verstehe, die von Krieg sprachen. Sogar nach dem Beginn der deutschen Offensive verhielt er sich einige Zeit zu den Ereignissen noch so, als wäre es eine Provokation deutscher Militärs, die Hitler zu einem Krieg gegen die Sowjetunion nötigen wollten. Diese Politik des führenden sowjetischen Staatsmannes kostete dem Land Millionen Menschenleben.

Übersetzung aus dem Russischen von Eugen Neuber

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