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Universitätsdozent Dr. habil. Martin Moll/Graz:
Implosion in Schwarz-Gelb?
Nationalitätenkonflikte als Ursache des Zusammenbruchs Österreich- Ungarns Ende 1918
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Im Mittelpunkt des Vortrags des Grazer Historikers Martin Moll am 12. September 2006 vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung stand die Frage, welchen Anteil die geradezu sprichwörtlichen Nationalitätenkonflikte in der österreichisch-ungarischen Monarchie an der Auflösung dieses Vielvölkerstaates im Herbst 1918 hatten. Daß es einen solchen Einfluß, und zwar einen gravierenden gab, wird von der Forschung seit jeher vorausgesetzt. Wie dieser jedoch gegenüber anderen desintegrierenden Faktoren zu gewichten sei, ist weniger klar. So umschrieb Moll den Ausgangspunkt seiner vergleichend angelegten Betrachtungen.
Gab es, so fragte Moll einleitend, anhand von Äußerungen des Historikers Heinrich Ritter von Srbik, eine schwarz-gelbe Variante der Dolchstoßlegende? Bei Srbik und anderen klingt deutlich an, daß der Zerfall der Monarchie durch innere Gegner herbeigeführt worden sei. Was man erwartet, ist ein allgemeines Lamentieren über Untreue, Verrat und Fahnenflucht der nicht-deutschen Völkerschaften. Aber dem war nicht so. Josef Redlich etwa publizierte 1925 eine schonungslose Abrechnung mit dem „inneren Regime“ im Habsburgerreich. Redlich zeigte auf, daß die kriegsabsolutistischen Maßnahmen kontraproduktiv wirkten, indem sie loyale Elemente vor den Kopf stießen. Man brauche sich über deren Abfall nicht zu wundern. Eine vermittelnde Position machte die „wirtschaftliche Verelendung“ als „Zerstörer des Frontgeistes“ aus.
Die Donaumonarchie hatte gravierende Probleme mit ihren Völkerschaften, aber war dies ein singuläres Problem? Moll wies darauf hin, daß auch für andere Großmächte innenpolitische Konflikte namhaft gemacht worden sind. Waren die österreichisch-ungarischen Probleme, allen voran der Nationalitätenstreit, besonders gravierend? Ja und Nein. Vielvölkerreiche gab es auch andere. Singulär war nicht die Zahl von 11 in Österreich-Ungarn offiziell anerkannten Nationalitäten, sondern zwei andere Umstände: Die staatstragenden Nationen, die Deutschen und die Ungarn, hatten in ihren Reichshälften nur eine relative Mehrheit. Die übrigen Völkerschaften waren nach erheblichen Fortschritten ihrer nationalen Emanzipation um 1900 auf einem Niveau angelangt, das sie zur Wahrnehmung ihrer nationalen Interessen befähigte, was den Konflikt mit den dominanten Nationen verstärkte. Nur kleine Zirkel strebten vor 1914 eine Auflösung der Monarchie an, die offizielle Politik der Vertreter der diversen Völkerschaften war dies keineswegs. Sieht sich man die vorhandenen Konflikte näher an, so richtete sich deren Stoßrichtung weder per se noch ausschließlich gegen den Gesamtstaat. Die Hemmungen, die der Nationalitätenstreit auf die Innenpolitik ausübte, sollte man nicht dramatisieren: Wohl lähmte er das Zentralparlament und die Landtage, aber es gab Instrumente, um ohne diese Körperschaften regieren zu können.
Übergehend zu der Frage, welche Ereignisse während des Krieges einen grundlegenden Umschwung herbeiführten, verwies Moll an erster Stelle auf die chaotische Versorgungslage. Der Staat erwies sich als unfähig, die elementarsten Bedürfnisse seiner Bewohner zu befriedigen. Die desintegrierende Wirkung in Richtung kann kaum überschätzt werden. Die Verteilungskonflikte hatten durchaus eine nationale Note. Damit entstand ein starker Impuls in Richtung zentrifugaler Tendenzen. Mit der Einstellung, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, weil von Wien nichts zu erwarten sei, entstand eine Mentalität, die Abkoppelungen begünstigte. Was sich entwickelte, war ein Diskurs über die Verteilung von Lasten und Opfern, die dieser Krieg massenhaft forderte. Geprägt war dieser Diskurs von gegenseitigen Schuldvorwürfen. Die Basis hatte der Umstand gelegt, daß der Erste Weltkrieg auch ein über die Propaganda ausgetragener Kampf um die Psyche war. Niemand konnte übersehen, daß sich die Entente-Staaten bemühten, in Österreich-Ungarn einen internen Auflösungsprozeß in Gang zu setzen. Diesen Hintergrund vor Augen, lag es nahe, im innenpolitischen Konfliktaustrag danach Ausschau zu halten, ob diese Agitation etwa Wirkung entfaltete – selbstredend nur bei den Anderen. Das „Durchhalten“ wurde nicht bloß propagiert, man versuchte es auch empirisch zu messen. Nationale und politische Gruppen nahmen an diesen Erörterungen lebhaften Anteil.
Kein Zweifel, daß 1917/18 der Nationalitätenstreit einen Tonfall von Haß und Erbitterung angenommen hatte. Freilich hatte Kaiser Karl mit seiner Aufhebung der Zensur und der Wiedereinberufung des österreichischen Parlaments ab Mai 1917 die Bühne zum öffentlichkeitswirksamen Austrag geschaffen. An dieser Stelle muß vermehrt eine außenpolitische Komponente in die Betrachtung einfließen, denn jedem, der in Österreich-Ungarn für die nationale Befreiung plädierte, war klar, daß er Rückhalt bei den Entente-Mächten brauchte. So eindeutig war deren Unterstützung lange Zeit hindurch keineswegs. Auf die diversen Friedensinitiativen konnte Moll nicht eingehen, im Frühjahr 1918 mußten diese in ihrer österreichischen Variante jedenfalls als gescheitert gelten. Nun erst begannen die Entente-Mächte den Emigranten weitreichende Zugeständnisse für eine Nachkriegsordnung ohne Habsburg zu machen.
Ein weiterer Schub kam von der militärischen Lage, nachdem im Juni/Juli 1918 sowohl die österreichische Offensive an der Piave als auch der letzte deutsche Großangriff in Frankreich gescheitert waren. Vor diesem Hintergrund schufen die in der Doppelmonarchie breit diskutierten 14 Punkte Wilsons eine Situation, die man in folgenden drei Kategorien beschreiben kann:
- Demokratische Ideale wurden gegen das Kaisertum von Gottes Gnaden gestellt.
- Nationalpolitische Faktoren traten verstärkt gegen das übernationale Reichsgebilde an und
- Sozialrevolutionäre Kräfte revoltierten gegen das alte Herrschaftssystem.
Die sozial-ökonomische Krise war mit neuen ideologischen Leitbildern und den nationalpolitischen Zielsetzungen eine explosive Mischung eingegangen, zugleich war jedoch das nationale Moment nur eines unter mehreren. 1918 hatte die Stimmung den Siedepunkt erreicht. Die Armee war in ideologische Einflußfelder geraten, die neben der Krise der materiellen Basis nun auch eine Krise der geistig-moralischen Grundlagen heraufbeschwor. Im Sinne einer Änderung des vorhandenen staatsrechtlichen Zustandes wirkte, daß Alternativkonzepte zur Verfügung standen: Sei es Masaryks Exil-Konzept einer völligen Unabhängigkeit eines tschechoslowakischen Staates, sei es die „Südslawische Deklaration“ von Ende Mai 1917, die einen Zusammenschluß aller Südslawen auf österreichisch-ungarischem Gebiet zu einem autonomen Staat propagiert hatte.
Die Ereignisse, die den letzten Anstoß gaben, faßte Moll so zusammen: Zuerst kam im September 1918 der Zusammenbruch Bulgariens und damit das Aufklaffen einer Lücke an der Balkanfront, der Rückzug der österreichisch-ungarischen Truppen, das Nachstoßen der Alliierten, das zu einer direkten Bedrohung Ungarns führte. Mit der Folge, daß die ungarische Regierung „ihre“ Truppen zurückrief. Nun sah sich Kaiser Karl zu einem Waffenstillstandsersuchen an Wilson genötigt und verständlicherweise machte er Zusagen in Richtung der 14 Punkte. Aus der Friedensbitte lasen die Tschechen und die Südslawen das volle Zugeständnis ihrer Freiheit heraus. Wenn sie nicht schon Nationalräte gebildet hatten, so taten sie dies nun und diese proklamierten um den 28. Oktober unabhängige Staaten. Mit der Stimmung des „Rette sich wer kann“ wurde deutlich, daß der Gesamtstaat in seinem Kern auseinanderbrach. Parallele Vorgänge spielten sich bei den bisherigen Stützen der Monarchie, den Deutschösterreichern und Ungarn ab.
Entscheidend war, daß sich der Ruf nach Frieden immer stärker mit der Forderung nach einem Umbau der gesellschaftspolitischen Voraussetzungen dieses Staates verband. Trotz unzähliger Reformkonzepte war auf diesem Gebiet nichts geschehen. Erst vor diesem Hintergrund konnten werbewirksame ideologische Kräfte zu einer tödlichen Gefahr für den Bestand der Monarchie werden. Die letzte Entscheidung lag jedoch im Machtspruch der Alliierten, konkret in Wilsons Antwort auf Karls Waffenstillstandsersuchen. Wilson hatte die Völkerschaften Habsburgs aufgefordert, über den Fortbestand der Monarchie zu richten, was als Legitimierung verstanden wurde, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Die bewegende Kraft für diese Veränderungen kam von der Einflußnahme der Alliierten, die allerdings unter dem Eindruck von Bewegungen innerhalb der Monarchie und deren Repräsentanten in der Emigration handelten. Zweifellos verfügten diese Bewegungen über eine breite soziale Basis. Daß sie sich so mühelos durchsetzen konnten, hing auch mit der Schwäche der alten Gewalten zusammen.
Die Schwierigkeiten, zu einem ausgewogenen Urteil über den Anteil der Nationalitätenproblematik am Auseinanderbrechen der Habsburgermonarchie zu gelangen, resultieren daraus, daß sich die auf den Umsturz drängenden Kräfte auch (aber in welchem Ausmaß?) aus sonstigen Ursachen erklären lassen. Nationale und sozial-revolutionäre Kräfte lassen sich nicht sauber trennen. Ein Blick auf kriegführende Staaten ohne nationale Konflikte belegt dies. Abschließend hielt Moll fest: Freilich sei es verlockend, die den Gesamtstaat verlassenden Teile und die vorangegangenen Konflikte unter diesen Teilen zur dominanten Ursache des Endes Österreich-Ungarns zu erklären. Ebenso plausibel scheine allerdings die Aussage: Nicht der Zerfall bedürfe einer Erklärung, sondern die Tatsache, daß dieser Staat so lange unter derart widrigen Umständen durchgehalten hatte.
Anschließende Anfragen der Zuhörer konzentrierten sich auf den Komplex der sozial-ökonomischen Krise Österreichs über die Nationalitätenkonflikte hinaus, vor allem hinsichtlich des Verhaltens der Klassen und Schichten im gesamten Verlauf des Krieges, wie z.B. die Ursachen für Fehleinschätzungen der herrschenden Kreise zu Kriegsbeginn, die Haltung zu möglichen Auswirkungen der russischen Revolution auf die Arbeiter und Bauern des Vielvölkerstaates und die Aussichten auf die weitere Erhaltung einer Großmacht sowie die Sicherung der ökonomischen Interessen der nationalen Bourgeoisie der staatstragenden Kräfte, den Deutschen und Ungarn.
Janis Schmelzer
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